Aus der Gießener Allgemeinen vom 04.10.2017
Text: Armin Pfannmüller
Bildquelle: Schepp
Als Martin Luther im Jahre 1517 seine 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg nagelte, hätte er sich wahrscheinlich nicht träumen lassen, dass diese Aktion 500 Jahre später als Vorbild für ein Projekt dienen würde, an dem auch Schüler der Ricarda-Huch-Schule teilnehmen.
Überlegt euch erst einmal genau, wie ihr das jetzt filmen wollt.« Konzentriert schauen acht Zwölftklässler auf Sara Bhatti. Die Fernsehreporterin des Hessischen Rundfunks ist an diesem Tag als Mediencoach an der Ricarda-Huch-Schule. Die kooperative Gesamtschule hat sich an dem Schülermedienprojekt »#95 neue Thesen« des HR beteiligt und gehört zu den zwölf Schulen in Hessen, die sich bei dem Wettbewerb durchgesetzt haben. Auch an der Ricarda geht es unter der These »Identität braucht Stolz statt Vorurteil« um Religion, Gaube und Werte. Statt Buße und Ablasshandel stehten bei den Oberstufenschülern sexuelle Orientierung, Ernährungsverhalten und Musikgeschmack im Vordergrund. Auch das Medium der Auseinandersetzung hat sich verändert. Statt eines schriftlichen Anschlags an der Schlosskirche zu Wittenberg nutzen die Projektteilnehmer Kamera, Handy und Internet.
Die Idee zur Teilnahme am HR-Wettbewerb entstand jedoch an einem Büchertisch. Vor einem halben Jahr hatten Sonja Herbener und Marco Weisbecker, die das Projekt als RHS-Lehrer betreuen, Literatur zum Thema »Sexuelle Identität« bereitgestellt. Daraus entwickelte sich ein kurzer Videobeitrag, den die Schüler beim Hessischen Rundfunk einreichten und mit dem Erfolg hatten.
Momentan versuchen Mila, Jan, Jessie und Co. Beiträge zu Themen wie Feminismus und Bisexualität, aber auch über Heavy-Metal-Fans, Vegetarier und Veganer zu entwickeln. Dabei geht es zum einen um inhaltliche Schwerpunkte, aber auch darum, in welcher Form die Beiträge präsentiert werden. »Die Schüler sollen einen Pageflow entwickeln und dabei eine digitale Geschichte erzählen«, erklärt Bhatti. Mit Video- und Audiobeiträgen, Texten und Fotos sollen Sequenzen erstellt werden, die als kurze Clips präsentiert werden und im Internet zur Diskussion anregen sollen. »Ich schiebe die Schüler in die richtige Richtung«, erläutert die Fernsehmoderatorin ihre Aufgabe.
Um die digitale Diskussion in Gang zu bringen, haben die Zwölftklässler Thesen aufgestellt. »Feministinnen sind Männerhasser«, »Metal-Fans sind böse« oder »Bisexuelle können sich nicht entscheiden« lauten einige der provokanten Aussagen, die die Schüler in den kommenden Wochen auf den Prüfstand stellen. Derzeit überlegen die Jugendlichen, mit wem sie Interviews zu welchem Thema führen können, wann ein Text- oder vielleicht doch ein Videobeitrag das Mittel der Wahl sein könnte. »Die Schüler sind hochmotiviert«, unterstreicht Weisbecker, hebt aber auch die wichtige unterstützende Rolle des Hessischen Rundfunks hervor.
»Das Thema Identität betrifft jeden«, sagt Mila und freut sich auf die Arbeit mit Menschen, die »vielseitig und vielschichtig« sind. Auch Jan ist überzeugt von der Projektarbeit, »weil viele Menschen einfach abgestempelt werden«. Erst durch umfassende Information lasse sich »das Wollknäuel von Vorurteilen« entwirren.
Für Direktor Werner Nissel ist das RHS-Projekt ein »wichtiger Baustein zur Medienbildung«, aber auch ein inhaltlicher Beitrag zur Entwicklung von Wertvorstellungen. Abschluss und Höhepunkt wird eine Diskussion Anfang Februar 2018 im Hessischen Rundfunk sein, die live im Internet übertragen wird. Dabei werden die Schüler mit dem HR-Intendanten und Vertretern des Kultusministeriums ihre Argumente zum Thema Toleranz gegenüber anderen Positionen austauschen.
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